Doris Gutsmiedl-Schümann

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Doris Gutsmiedl-Schümann

Doris Gutsmiedl-Schümann

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Am Münchner U-Bahnhof “Universität” ist noch bis Ende Oktober 2024 beim Aufgang Nord eine besondere Fotoausstellung zu sehen: “Vier Tage – Vier Münchner” zeigt vier Menschen mit komplexer Behinderung in ihrem Alltag. Erstellt wurden die einfühlsamen Portraits vom Fotografen Florian Jaenicke, kuratiert wurde die Ausstellung von der Stiftung Leben Pur.

Die Ausstellung wird in der U-Bahn-Galerie des Bezirksausschusses Maxvorstadt gezeigt. Sie ist so gelegen, dass alle Fahrgäste, die über diesen Eingang zu U-Bahn gehen oder den Bahnsteig über diesen Ausgang verlassen, an diesen Bildern vorbeilaufen. Viele werden sie im Stress des Alltags nicht einmal bemerken; manche werden sie vielleicht unterbewusst wahrnehmen. Den Wenigen, die stehen bleiben und die Bilder näher betrachten, zeigt sich eine besondere Welt, voll Mühen und komplizierten Dingen, aber auch voll schöner Momente und Lebensfreude. Diese Ausstellung gibt Menschen mit komplexer Behinderung in unserer Welt ein Gesicht – und einen Platz.

Doch wie sah es in der Vergangenheit aus? Auch im archäologischen Befund werden manchmal Menschen mit Behinderung sichtbar. Da ich im Kontext dieser Ausstellung darauf angesprochen wurde, möchte ich hier heute ein paar Beispiele aus der Fachliteratur vorstellen.

Zunächst aber noch einmal zurück zu Fotoausstellung: Mir persönlich gefällt an “Vier Tage – Vier Münchner” besonders gut, dass der medizinische Befund der portraitierten Menschen nicht weiter thematisiert wird. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht das Leben. Es wird lediglich festgestellt dass diese Menschen behindert sind, und dass sie im Alltag mit vielen Hürden zurechtkommen müssen: Sowohl baulich, als auch in den Köpfen anderer Menschen. Diese Hürden betreffen dann auch die Menschen um sie herum, wie etwa die Familien und Betreuungspersonen, die sich um sie kümmern.

Im archäologischen Befund hingegen ist der medizinische Befund in der Regel der erste Zugang zum Thema Behinderung. Manche Krankheiten oder Verletzungen, die zu einer dauerhaften Einschränkung führten, zeigen sich am Skelett, und können durch anthropologische Untersuchungen festgestellt werden. Manchmal sind es aber auch medizinische Hilfsmittel, die sich im archäologischen Befund erhalten haben, und uns Hinweise darauf geben, wie mit Krankheit und Behinderung in früheren Zeiten umgegangen wurde. Da ich im Kontext der Ausstellung “Vier Tage – Vier Münchner” darauf angesprochen wurde, möchte ich hier ein paar ausgewählte Beispiele kurz vorstellen, möchte bei allen aber auch auf die genannte und z.T. verlinkte Literatur verweisen. Ich würde mir zudem wünschen, dass auch die behinderten Menschen der Vergangenheit mehr Sichtbarkeit bekommen, um zu zeigen, dass es sie auch früher gab – genauso wie die Menschen, die sich um sie gekümmert haben.

Pflege mehrfach behinderter Menschen in der Altsteinzeit

Mit den ersten Beispielen möchte ich in der Zeit sehr weit zurückgehen, bis in die Altsteinzeit. Bis vor etwa 45.000 Jahren lebten in Europa u.a. die Neanderthaler. Gerade sie haben in der populären Wahrnehmung oft den Ruf, besonders unkultiviert und brutal gewesen zu sein: Die Vorstellung ist oft die, dass das Leben von Individuen, die für die Gemeinschaft keinen Nutzen hatten, wertlos war. Der archäologische Befund zeichnet jedoch ein viel differenzierteres Bild. Vor Kurzem wurde beispielsweise eine Studie veröffentlicht, die ein Neanderthaler-Kind mit Down-Syndrom vorstellte. Das kleine Mädchen lebte vor etwa 273.000 bis 146.000 Jahren in der Nähe der heutigen spanischen Stadt Xàtiva. Sie wurde mindestens 6 Jahre alt. Dies ist insofern bemerkenswert, da die Lebenserwartung von Kindern mit Down-Syndrom auch 1929 nur 9 Jahre betrug. Die Autor*innen der Studie gehen daher davon aus, dass dieses Neanderthal-Kind mit Down-Syndrom von den Eltern und der Gemeinschaft versorgt wurde. Die Pathologien, die am Skelett dieses Neanderthal-Kinds festgestellt wurden, weisen darauf hin, dass es wohl schwerhörig oder taub war, und starke Gleichgewichtsstörungen hatte. Letzteres war bei einer sehr mobilen Lebensweise, wie sie die Neanderthaler im eiszeitlichen Europa pflegten, sicherlich ein großes Problem – das die damalige Gemeinschaft aber zu meistern wusste.

Originalstudie: Mercedes Conde-Valverde et al., The child who lived: Down syndrome among Neanderthals? Science Advances 10/26, 2024, online verfügbar unter https://doi.org/10.1126/sciadv.adn9310

Berichterstattung u.a. in National Geographic: Lisa Lamm, Down-Syndrom bei Neandertaler-Kind nachgewiesen. Online verfügbar unter: National Geopraphic, 8. Juli 2024, https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2024/07/down-syndrom-bei-neandertaler-kind-nachgewiesen

Diese Studie zu dem Neanderthal-Kind mit Down-Syndrom war aber nicht die erste Studie, die zeigte, dass sich Neanderthaler um kranke, verletzte oder dauerhaft beeinträchtige Individuen kümmerten. 2017 wurde eine Studie zum Neanderthal-Skelett Shandidar 1 von der gleichnamigen Fundstelle im heutigen Irak veröffentlicht, die ausführlich die Pathologien dieses Individuums vorstellte. Der Neanderthal-Mann lebte vor etwa 50.000 Jahren, und hatte in seiner Kindheit einen schweren Unfall, der seine Entwicklung stark beeinträchtigte. Er war in der Folge wohl schwerhörig, wenn nicht sogar taub und sehbehindert, und er verlor in Folge der Verletzung seinen Unterarm. Zudem blieb er schwach, und humpelte – alles Einschränkungen, die in einer mobil lebenden Gemeinschaft, die vom Jagen und Sammeln lebte, besonders schwer wogen. Trotz dieser mehrfachen Behinderungen wurde dieser Neanderthal-Mann über 40 Jahre alt, und starb somit in seiner Zeit als alter Mann. Auch er ist ein Beispiel für ein Individuum, das ein Leben lang von der Gemeinschaft mitversorgt wurde.

Originalstudie: Erik Trinkaus / Sébastien Villotte, External auditory exostoses and hearing loss in the Shanidar 1 Neandertal. Plos One October 2017, online verfügbar unter https://doi.org/10.1371/journal.pone.0186684

Berichterstattung u.a. in Spiegel Wissenschaft: Frank Patalong, Neandertaler waren Krankenpfleger. Online verfügbar unter: Spiegel Wissenschaft, 24.10.2017, https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/lebenslange-fuersorge-neandertaler-waren-krankenpfleger-a-1174377.html

Prothesen im frühen Mittelalter

Meine weiteren Beispiele stammen aus dem frühen Mittelalter, aus dem 5. bis 7. nachchristlichen Jahrhundert. In dieser Zeit lebten die Menschen in Dörfern, betrieben Ackerbau und hielten Nutztiere – und legten große Friedhöfe an, auf denen sie ihre Toten bestatteten. Einer dieser Bestattungsplätze, von denen wir allein aus dem deutschsprachigen Raum hunderte kennen, ist das Gräberfeld von Bonaduz in der Schweiz. Dort wurden insgesamt 710 Gräber archäologisch untersucht: Eines davon war das Grab eines Mannes, der im Alter von ca. 40 – 50 Jahren starb. Ihm fehlte der rechte Fuß: an seiner Stelle trug er eine Prothese, deren organische Bestandteile im Grab gut als dunkle Verfärbung zu erkennen sind, und von der sich Holz-, Leder- und Eisenreste erhalten haben.

Originalpublikation: René Baumgartner, Fussprothese aus einem frühmittelalterlichen Grab aus Bonaduz. Helvetia Archaeologica 51/52, 1982, 155-162.

In einer ähnlichen Zeit wurde im Gräberfeld in der Nähe von Griesheim, Kreis Darmstadt-Dieburg, ebenfalls ein erwachsener Mann bestattet, der anstelle des linken Unterschenkels eine Prothese trug. Sie war aus Holz gefertigt, und mit einem Bronzeblech umgeben, daher haben sich Reste seiner Prothese im archäologischen Befund erhalten. Im anthropologischen Befund war zudem erkennbar, dass sein Skelett auf der rechten Körperseite deutlich kräftiger entwickelt war: Dieser Mann muss also einige Jahre mit der Prothese gelebt haben. Er verstarb im Alter von ca. 60 Jahren, und wurde in einer gezimmerten Grabkammer bestattet. Sein Grab wurde beraubt, daher kennen wir den Umfang seiner Grabausstattung nicht: Bei der archäologischen Ausgrabung trug er noch ein Schwert bei sich. Der aufwändige Grabbau und das Schwert weisen darauf hin, dass dieser Mann zur Elite seiner Gemeinschaft zählte.

Originalpublikation: Baldur Keil, Eine Prothese aus einem fränkischen Grab von Griesheim, Kr. Darmstadt-Dieburg. Fundberichte aus Hessen 17/18, 1977/1978, 195-211.

Beide Verstorbenen wurden mit ihren Prothesen ganz selbstverständlich mit allen anderen auf dem örtlichen Friedhof bestattet. Auch der Grabbau und die Grabausstattung weisen auf keine Sonderbehandlung dieser Toten hin. Wir können daher davon ausgehen, dass sie auch zu Lebzeiten in ihrem jeweiligen Gemeinschaften integriert waren, auch wenn sie auf Grund ihrer Behinderung wohl dauerhaft auf Hilfe angewiesen waren.

Diese Beispiele sind – zugegebenermaßen – etwas willkürlich ausgewählt. Aber genau diese zufällige Zusammenstellung soll auch zeigen, dass es in allen Zeiten Menschen gegeben hat, die auf die Pflege und Fürsorge anderer angewiesen waren; und auch die Pflegepersonen dürften auf die Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen gewesen sein.


Dieser Blogeintrag ist am 7. Oktober 2024 zuerst unter https://archiskop.hypotheses.org/942 erschienen.

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Forschende - Lehrende - Archäologin | Prähistorikerin - Hochschuldidaktikerin