Doris Gutsmiedl-Schümann

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Doris Gutsmiedl-Schümann

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Anlässlich der gemeinsamen Jahrestagung des West- und Süddeutschen Verbandes für Altertumsforschung (WSVA) und des Mittel- und Ostdeutschen Verbandes für Altertumsforschung (MOVA) vom 25. bis 29. September 2023 in Tübingen möchten wir heute die ersten Absolventinnen der Ur- und Frühgeschichte an der Eberhard Karls Universität vorstellen. Zugleich ist dies ein Blick in die Fachgeschichte der Ur- und Frühgeschichte, da u.a. mit einem Aufsatz von Sibylle Kästner, Viola Maier und Almut Schülke über die ersten Tübinger Prähistorikerinnen die systematische historiografische Forschung zu frühen Archäologinnen des Fachs begann.

Der Beginn urgeschichtlicher Forschungen lässt sich an der Universität Tübingen bis an die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurückverfolgen: Damals wurde am geologischen Institut eine urgeschichtliche Sammlung eingerichtet. Große Bedeutung erlangte diese Sammlung unter der Leitung von Robert Rudolf Schmidt (1882-1950), der seit 1917 außerordentlicher Professor für Urgeschichte an der Universität Tübingen war. Über viele Jahre erforschte er eiszeitlich besiedelte Höhlen der Schwäbischen Alb.

Mit dem Wintersemester 1921/22 wurde ein eigenes Urgeschichtliches Institut ins Leben gerufen. 1926 kam zu Robert Rudolf Schmidt als weiterer Dozent Hans Reinerth (1900-1990) hinzu, der im Jahr zuvor auch in Tübingen habilitiert hatte. Reinerth zählte zu jenen Archäologen, die ihre Arbeit schon früh in den Dienst des Nationalsozialismus stellten. 1934 ging Hans Reinerth als Nachfolger Gustav Kossinnas an die Universität Berlin; an seiner Stelle wurde 1935 Gustav Rieck (1900-1976) berufen.

Bis zum Ende des 2. Weltkriegs schlossen drei Frauen das Studium der Ur- und Frühgeschichte in Tübingen ab; 1946 folge eine vierte Promotion. In kurzen Biografien möchten wir hier diese Frauen vorstellen.

Beatrice Vermehren-Goering (1901-1977)

Die erste Frau, die das Studium der Ur- und Frühgeschichte in Tübingen abschloss, war Beatrice Goehring (1901-1977), verh. Vermehren-Goering. Nach Auskunft ihrer Promotionsakte hatte Beatrice Goehring an den Universitäten Berlin, Freiburg und Tübingen insgesamt 10 Semester studiert, nachdem sie am 15. Februar 1921 das Realgymnasium in Charlottenburg abgeschlossen hatte. Sie reichte 1928 eine Dissertationsschrift über „Die jungneolithische Mischkultur in den Sudentenländern und Ostalpen besonders auf Grund der keramischen Funde“ ein. Der Betreuer ihrer Arbeit war Robert Rudolf Schmidt, die mündliche Prüfung fand am 16. Februar 1928 statt. Allerdings ließ Beatrice Goehring der Fakultät nie die erforderlichen Belegexemplare ihrer Doktorarbeit zukommen, weshalb ihr auch der Doktortitel nicht verliehen werden konnte.

Nach Abschluss ihres Studiums wollte Beatrice Goehring gerne zurück nach Berlin, und bewarb sich am Museum für Vor- und Frühgeschichte. Die Stelle, auf die sie sich beworben hatte, hat sie zwar nicht bekommen, sie wurde aber von 1928 bis 1937 auf mehreren Arbeitsverträgen als Wissenschaftliche Hilfsarbeiterin am Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin beschäftigt. Zu ihren Aufgaben gehörten die Aufarbeitung und Publikationsvorbereitung von archäologischen Ausgrabungen sowie die Eingliederung neuer Funde in die Studiensammlung.

Am 29. Juni 1929 heirateten Beatrice Goehring und Dr. phil Hellmuth Vermehren. Das Paar bekam bis 1945 insgesamt 5 Kinder.

Ab 1937 zog sich Beatrice Vermehren-Goering aus der Archäologie zurück, da sie nach Aussage ihres Sohnes auf Abstand zu der im Nationalsozialismus vereinnahmten Vor- und Frühgeschichte gehen wollte. Auch daher wurde sie nach dem Ende des 2. Weltkriegs für die Leitung des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte in Betracht gezogen. Als ihr diese Stelle angeboten wurde, lehnte sie jedoch ab – unter anderem wegen ihrer fünf Kinder.

Link zu einem Artikel über Beatrice Vermehren-Goehring im Berlinder Tagesspiegel vom 12. Januar 1961 (Quelle: MVF 2004/151)

Zehn Jahre später, als das Museum für Vor- und Frühgeschichte seine Ausstellung wieder für das Publikum öffnen konnte, kehre Beatrice Vermehren-Goehring allerdings doch an ihre frühere Arbeitsstätte zurück. Unter der Direktorin Gertrud Dorka wie auch unter deren Nachfolgern war sie vor allem im Führungsdienst tätig, und brachte Generationen von Berliner Schülerinnen und Schülern bei Museumsbesuchen die Vorgeschichte Berlins nahe.

Gerta Schneider, verh. Blaschka (1908-1999)

Gerta Schneider (1908-1999), verh. Blaschka, schloss ihr Studium im Jahr 1933 ab. Ihre Arbeit über “Die vorgeschichtlichen Wagen in Deutschland” wurde von Hans Reinerth betreut. Ihre Dissertationsschrift wurde erst 1965 publiziert, damit wurde dann auch das Promotionsverfahren abgeschlossen und der Titel Dr. rer. nat. verliehen.

Gerta Schneider war die Nichte Robert Rudolf Schmidts. Sie nahm bereits als Schülerin 1920 und 1921 an Ausgrabungen des Tübinger Instituts in Riedschachen und Aichbühl bei Bad Schussenried teil. Wahrscheinlich traf sie bereits dort auf ihren späteren Mentor Hans Reinerth.

1927 begann Gerta Schneider in Lausanne das Studium der Ur- und Frühgeschichte. Sie studierte in den folgenden Jahren auch an den Universitäten Wien, München und Heidelberg, ehe sie ihren Abschluss in Tübingen erwarb. Ihre Studien waren breit aufgestellt: Neben Vor- und Frühgeschichte besuchte sie Veranstaltungen in Geologie, Geografie, klassische Archäologie, Volkswirtschaft und Sprachwissenschaft.

Nach ihrem Abschluss folgte Gerta Schneider Hans Reinerth nach Berlin. Dort war sie als seine Assistentin und Mitarbeitern für die Redaktion von Schriften und die Organisation von Grabungen zuständig, zudem entwarf sie zahlreiche Ausstellungen zu vorgeschichtlichen Themen und erarbeitet Vorlagen für die Modellwerkstatt des Reichsbunds für Vorgeschichte. 1944 bis 1946 wurde ihr die Leitung der Ausweichstelle des Berliner Instituts für Vor- und Frühgeschichte in Schloss Salem am Bodensee übertragen. Bis 1956 war sie am Pfahlbaumuseum Unteruhldingen tätig, dessen Wiederaufbau sie 1945 bis 1950 leitete.

1956 verließ Gerta Schneider den Bodensee, und ging an das Institut für angewandte Geodäsie der Universität Frankfurt am Main, wo sie bis 1972 als wissenschaftliche Bibliothekarin tätig war und an einem mehrsprachigen geologischen Wörterbuch mitarbeitete. Im Gegensatz zu ihrer älteren Kollegin Beatrice Vermehren-Goering, die ab 1937 auf Abstand zur nationalsozialistisch vereinnahmten Vor- und Frühgeschichte ging, nutzte Gerta Schneider die Möglichkeiten, die sich in der NS-Archäologie boten. Demzufolge konnte sie nach 1945 auch nur in unmittelbarem Umfeld Reinerths weiterhin archäologisch tätig sein.

Senta Rafalski-Giering (1911-1996)

Die dritte Frau, die in Tübingen das Studium der Vor- und Frühgeschichte abschloss, war Senta Rafalski (1911-1996), verh. Rafalski-Giering. Auch ihre Doktorarbeit wurde von Hans Reinerth betreut. Sie schrieb über „Nordische Feuersteindolche“. Sie schloss das Promotionsverfahren erst 1952 ab, als ihre Arbeit erneut getippt und die erforderlichen Belegexemplare an der Universität Tübingen eingereicht wurde. Sie erwarb wie Gerta Schneider den Titel Dr. rer. nat..

Als Senta Rafalski sich 1931 an der Universität Tübingen einschrieb, wollte sie zuerst dem Wunsch ihrer verstorbenen Eltern folgen und Lehrerin werden. Doch schon nach einem Semester wechselte sie zu den Studienfächern Geologie, Geografie und Vorgeschichte, und wählte letztere als ihr Hauptfach. Als Waise musste sie keine Studiengebühren bezahlen; sie musste jedoch jedes Semester drei sog. „Fleißprüfungen“ bestehen. Nach Studienaufenthalten in Innsbruck und Kiel kehrte Senta Rafalski 1933 nach Tübingen zurück, und begann an ihrer Dissertation zu arbeiten. Sie bestand die mündliche Doktorprüfung am 12. Dezember 1935. Angebote Reinerths, ihr nach Berlin zu folgen, lehnte sie ab. Statt dessen ging sie 1936 nach Tansania, wo sie zunächst als Hausmädchen und Hauslehrerein, und ab 1938 auf einer archäologischen Ausgrabung arbeitete. Dort lernte sie auch ihren späteren Ehemann kennen.

1972, nach dem Tod ihres Mannes, kehrte Senta Rafalski-Giering an die Universität Tübingen zurück. Sie war 34 Jahre lang nicht archäologisch tätig gewesen: Nun wollte sie gerne die Funde jener Ausgrabung in Tansania bearbeiten, an der sie in der 1930er Jahren teilgenommen hatte. Dies wurde ihr mit einem Stipendium ermöglicht. Ab 1974 koordinierte und editierte sie nicht nur die Publikationen besagter afrikanischer Grabungen, sondern entwickelte auch eine Methodik, mit der die Ergebnisse unterschiedlicher Expeditionen verglichen werden konnten.

Marija Alseikaitė-Gimbutienė (1921-1994)

Besondere Berühmtheit sollte Marija Alseikaitė-Gimbutienė (1921-1994) erlangen, die auch unter dem Namen Marija Gimbutas bekannt wurde. Sie reichte 1946 ihre Dissertation in Tübingen ein. Über sie und ihr Leben gibt es bereits umfangreiche Arbeiten, wie z.B. die erst kürzlich erschienene Monografie von Rasa Navickaitė: „Marija Gimbutas. Transnational Biography, Feminist Reception, and the Controversy of Goddess Archaeology“. Hier soll daher nur ein kurzer Blick auf ihre Studienzeit und ihren Abschluss in Tübingen geworfen werden.

Marijas Eltern waren beide Ärzte. Sie verbrachte ihre Kindheit in Litauen zunächst in Vilnius, dann in Kaunas, und erlebte dort den Ausbruch des 2. Weltkriegs 1939. Unmittelbare Bedeutung bekam die weltpolitische Lage in ihrem Leben, als Litauen am 15. Juni 1940 von der Roten Armee besetzt und zu einer Sowjetrepublik wurde. Nachdem das nationalsozialistische Deutschland der Sowjetunion den Krieg erklärt hatte, kam es im Juni 1941 in Litauen zu Aufständen gegen die bereits abrückende Rote Armee. Marija Gimbutas war zusammen mit ihrem Verlobten daran beteiligt. Litauen blieb jedoch nicht unabhängig, sondern wurde in kürzester Zeit von der Wehrmacht erobert.

Marija Gimbutas begann 1941 im besetzen Litauen zu studieren. Sie wandte sich von Anfang an den Geisteswissenschaften zu. Im November dieses Jahres wählte sie Archäologie als ihr Hauptfach und studierte fortan an der 1940 an der Universität Vilnius gegründeten Fakultät für Archäologie. Ihr Professor war Jonas Puzinas (1905-1978), der seinerseits beim Prähistoriker Ernst Wahle (1889-1981) in Heidelberg studiert hatte und als Begründer der wissenschaftlichen Archäologie Litauens gilt. Marija Gimbutas schloss ihr Studium bereits im Juni 1942 mit einer Arbeit zu den eisenzeitlichen Bestattungssitten Litauens ab – anders als in Deutschland gab es in dieser Zeit in Litauen bereits einen Abschluss vor der Promotion. Noch im gleichen Jahr begann sie an einer Dissertation über vorgeschichtliche Bestattungssitten in Litauen zu arbeiten. Sie konnte diese Arbeit jedoch nicht abschließen, da im März 1943 die litauischen Universitäten von der deutschen Besatzungsmacht geschlossen wurden.

Im Sommer 1944 floh Marija Gimbutas, die zwischenzeitlich Mutter geworden war, mit ihrer Familie vor den anrückenden sowjetischen Truppen nach Westen. Sie lebten als Flüchtlinge zuerst in Wien, dann in Innsbruck. Bereits in Wien begann Marija, einzelne Veranstaltungen an der dortigen Universität zu besuchen, und fing an, ihre Doktorarbeit in Deutsche zu übersetzen. In Innsbruck bekam sie Kontakt mit dem Prähistoriker Leonhard Franz (1875-1974), der bereits einige Frauen im Fach Vor- und Frühgeschichte promoviert hatte, und der sie nun auch unterstützt.

Nach dem Ende des 2. Weltkriegs fand sich Marija Gimbutas mit ihrer Familie in der französischen Besatzungszone wieder. Sie zogen Ende August 1945 nach Tübingen, wo Marija im Wintersemester 1945/46 als Studentin an der dortigen Universität aufgenommen wurde. Sie konnte ihre bereits abgeschlossene und nun auch auf Deutsch vorliegende Doktorarbeit am 29. März 1946 erfolgreich verteidigen. Noch im gleichen Jahr wurde sie zum Dr. phil. promoviert, und schloss mit der Publikation von „Die Bestattungen in Litauen in der vorgeschichtlichen Zeit“ ihr Promotionsverfahren ab.

Link zum Vorwort aus: Marija Gimbutas, Die Bestattung in Litauen in der vorgeschichtlichen Zeit (Tübingen 1946).

Marija Gimbutas ging 1949 in die USA, und setze dort ihre wissenschaftliche Karriere fort.

Noch heute gehen Studierende, Lehrende und Besucher*innen des Institut für Ur- und Frühgeschichte täglich an der „Ahnengalerie“ vorbei: Portraitfotos von allen Promovierten des Instituts zieren in zeitlicher Ordnung die Wände in den Fluren. Die Nachfolgerinnen von Beatrice Vermehren-Goering, Gerta Schneider, Senta Rafalski-Giering und Marija Gimbutas stellen wir in künftigen Beiträgen vor.

Quellen:

Sibylle Kästner/Viola Maier/Almut Schülke, From Pictures to Stories. Traces of female PhD graduates from the Department of Prehistoric Archaeology, University of Tübingen, Germany. In: Margarita Díaz-Andreu/Marie Louise Stig Sørensen (Hrsg.), Excavating women. A history of women in European archaeology (London 1998) 266–294.

Sibylle Kästner/Viola Maier/Almut Schülke, 50 Years in a German Department of Prehistoric Archaeology (1921-1971). In: Helga Brandt (Hrsg.), Frauen – Forschung – Archäologie (Münster 1995) 78–86.

Julia Katharina Koch, Frauen in der Archäologie – eine lexikalisch-biographische Übersicht. In: Jana Esther Fries/Doris Gutsmiedl-Schümann (Hrsg.), Ausgräberinnen, Forscherinnen, Pionierinnen. Ausgewählte Porträts früher Archäologinnen im Kontext ihrer Zeit. Frauen Forschung Archäologie 10 (Münster 2013) 259–280.

Rasa Navickaitė, Marija Gimbutas. Transnational biography, feminist reception, and the controversy of goddess archaeology (Abingdon, Oxon / New York, NY 2023).

Gunter Schöbel, Weichenstellerinnen. Ein Blick hinter die Kulissen der Fachdisziplin Vorgeschichte zwischen 1918-1939. Praehistorische Zeitschrift 97/1, 2022, 344–361.

Gunter Schöbel, Gerta Blaschka. Nachruf. Archäologisches Nachrichtenblatt 4,3, 1999, 299.

Universitätsarchiv Tübingen: UAT_136_050 Beatrice Göring

Archiv des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin: MVF 2004/151 Vermehren-Göhring, Beatrice


Dieser Blogeintrag ist am 5. Oktober 2023 zuerst unter https://aktarcha.hypotheses.org/3149 erschienen.

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