Lesen und bewerten, nicht redigieren und editieren…
Gedanken zu schriftlichen Prüfungsleistungen Studierender
Die akademische Arbeitswelt ist vielfältig, doch auf die eine oder andere Art und Weise habe ich es immer wieder mit Geschriebenem, mit Texten zu tun.
Auf der einen Seite muss ich die Publikationen meiner Fachkolleginnen und Fachkollegen lesen, um inhaltlich auf dem Laufenden zu bleiben, auf der anderen Seite werden von mir ebenfalls wissenschaftliche Artikel geschrieben. Ich bin aber auch als Mitherausgeberin von Tagungs- und Sammelbänden tätig, und da das editieren und redigieren der Beiträge bei diesen Bänden zu größten Teilen von den Herausgeberinnen und Herausgebern erledigt wird, habe ich somit auf eine dritte Art und Weise Umgang mit Texten im wissenschaftlichem Kontext. Die häufigste Form von Geschriebenem, mit der ich in meinem Arbeitsalltag – abgesehen von Kommunikationsformen wie e-Mail oder Chat – zu tun habe, sind jedoch Texte von Studierenden, die meist als schriftliche Prüfungsleistungen in Form von Klausuren, Hausarbeiten oder Abschlussarbeiten auf meinem Schreibtisch landen.
So geht es natürlich nicht nur mir, sondern vielen meiner Kolleginnen und Kollegen – und so drehen sich kollegiale Gespräche auch immer mal wieder um die zu bewertenden Prüfungsleistungen. Dabei ist mir aufgefallen, dass diese Gespräche oftmals sehr schnell zu Gesprächen über (mangelnde) Rechtschreibung und Zeichensetzung, über Tippfehler und holprige Grammatik werden.
Zugegebenermaßen, auch ich habe bei den ersten schriftlichen Arbeiten, die ich als Dozentin bewerten sollte, zunächst v.a. auf Rechtschreibung und Zeichensetzung sowie auf das Einhalten von Formalien geachtet. Rückblickend würde ich sagen, dies lag vor allem daran, dass ich mich damit auf definiertem Terrain bewegen konnte: Rechtschreibung und Zeichensetzung folgen bestimmten Regeln, und sind damit entweder richtig oder falsch. Inzwischen ist mir jedoch bewusst geworden, dass es der im Sinne der Diversität bunt zusammengewürfelten Studierendenschaft meiner Disziplin nicht angemessen ist, etwas anderes als die fachliche Dimension einer schriftlichen Prüfungsleistung und die wissenschaftliche Arbeitsweise in ihr zur Bewertung heranzuziehen.
Jede Art von schriftlicher Prüfungsleistung wird unter Zeitdruck geschrieben. Bei Klausuren ist dies offensichtlich, da die zur Verfügung stehende Zeit sich in der Regel in Minuten messen lässt, und nach Ablauf der Zeit die Abgabe der Klausur obligatorisch ist. Bei Hausarbeiten oder Abschlussarbeiten ist dies weniger klar zu erkennen, doch auch hier ist nur eine bestimmte Bearbeitungszeit vorgesehen, und die Themen der Arbeiten sind in der Regel so bemessen, dass sie inhaltlich in der vorgesehenen Zeit zu bewältigen sind. Dies bedeutet dann aber auch, dass die Studierenden in der zur Verfügung stehenden Zeit vor allem am Inhalt Ihrer Texte arbeiten, und andere Aspekte des Schreibens erst einmal zurückstellen. Meiner Beobachtung nach fällt es Studierenden vor allem bei ihren ersten wissenschaftlichen Arbeiten häufig schwer, die Phase der Recherche abzuschließen, und sich nur noch auf das Schreiben und den Text zu konzentrieren: Hinter jedem recherchierten Aspekt eines Themas finden sich schließlich neue Fragen und Fragestellungen, die ebenfalls als interessant, relevant und wichtig wahrgenommen werden. Dies ist zum einen ein wichtiger Lerneffekt im Bezug auf wissenschaftliches Arbeiten; dies führt aber auch dazu, dass kaum noch Zeit bleibt, um den Text für eine Weile beiseite zulegen, um ihn sich dann mit frischen Augen wieder vorzunehmen, um die Fehler zu entdecken, die zuvor durch den durch die Arbeit am Text entstandenen “Tunnelblick” verdeckt wurden: der Autor oder die Autorin glaubt ja schließlich zu wissen, was dort geschrieben steht, und Fehler werden oftmals nicht mehr gesehen.
Eine Möglichkeit, die Betriebsblindheit gegenüber dem eigenen Text zu umgehen, ist, ihn anderen Personen zum Lesen und Korrigieren zu geben. Wenn Studierende Hausarbeiten oder Abschlussarbeiten gegenlesen lassen, dann geschieht dies meist im privaten Umfeld. Studierende, die aus einem akademischen Hintergrund kommen, haben im Familien- oder Freundeskreis daher mit höherer Wahrscheinlichkeit Korrekturleserinnen und -leser, die selbst schon ähnliche Texte verfassen mussten, und somit wissen, worauf es ankommt. Zudem dürfte es für Verwandte und Freunde, die selbst ein Studium durchlaufen haben, auch einfacher sein, einer wissenschaftlichen Hausarbeit oder Abschlussarbeit inhaltlich zu folgen, womit mehr Kapazität und Aufmerksamkeit bliebe, um Rechtschreib- und Grammatikfehler zu finden. Zugespitzt formuliert: Nur wer ein akademisch geprägtes soziales Umfeld hat, kann Arbeiten qualifiziert gegenlesen lassen. Damit erhalten aber genau jene Studierende, die sich auf Grund Ihrer Herkunft und ihres sozialen Hintergrunds an der Universität ohnehin schon am Besten zurechtfinden, einen weiteren, möglicherweise entscheidenden Vorteil. Bei Hausarbeiten oder Abschlussarbeiten die Note auch auf Rechtschreibung und Zeichensetzung zu stützen, wäre daher in meinen Augen implizit sozial selektiv.
Doch wie lese ich schriftliche Prüfungsleistungen, insbesondere Seminararbeiten möglichst so, dass ich den Studierenden konstruktives und hilfreiches Feedback geben kann? Hierzu war für mich die Hinweise in der Handreichung “Studierenden Text-Feedback geben” von Elke Langelahn besonders hilfreich; eine kurze Zusammenfassung der aus meiner Sicht wichtigsten Punkte findet sich z.B. auf den Seiten des Schreibzentrums der Europa Universität Viadrina. Durch diese Texte ist mir erst bewusst geworden, dass die Aussicht, eine Seminararbeit benoten zu müssen, mein Leseverhalten entscheidend ändert, und das Lesen weniger auf das Verstehen des Inhalts, sondern viel mehr auf die Suche nach Fehlern ausgelegt ist – wie etwa auch bei der Redaktionsarbeit. Die Folge ist oft ein über den Text gebeugtes Lesen, mit dem Rotstift in der Hand, der den Blick auf die Details lenkt – aber zugleich das Risiko mit sich bringt, die Gesamtheit der Arbeit, ihren Aufbau und die gewählte Argumentation aus den Augen zu verlieren. Es würde schriftlichen Arbeiten Studierender jedoch deutlich mehr gerecht, wenn diese wie andere wissenschaftliche Arbeiten auch zunächst einmal mit Interesse und Neugier gelesen werden: Anschließend ist es möglich, ein frei formuliertes Feedback zu verfassen, das sowohl Aspekte, die gut gelungen sind, als auch Aspekte, die verbessert werden können, umfasst. In der Bewertung von Hausarbeiten gehe ich daher inzwischen nach der “Ressourcenschonenden Methode 1” nach Langelahn (S. 7-8) vor, und lese und bewerte schriftliche Arbeiten, ohne sie jedoch zu editieren oder zu redigieren.
Links:
Elke Langelahn, Studierenden Text-Feedback geben – effizient und konstruktiv. https://www.uni-bielefeld.de/einrichtungen/zll/publikationen/Handreichung_Text-Feedback.pdf
Handreichung auf der Seite des Schreibzentrums der Europa Universität Viadrina: https://www.europa-uni.de/de/struktur/zsfl/institutionen/schreibzentrum/angebote/lehrende/materialien/Konstruktiv-Feedback-auf-studentische-Texte-geben-II.pdf
Dieser Blogeintrag ist am 13. Juni 2019 zuerst unter https://archiskop.hypotheses.org/427 erschienen.